I’m a pussy – Mut und Selbsteinschätzung auf dem Bike

Abstand-Halter, Aufzugbenutzer und Akkulicht-Radler. Beckenrandschwimmer, Beilagenesser und Bergaufschieber. Cassettenbeschrifter, Cookies-Deaktivierer und Chefbegrüsser. Diese Liste lässt sich lange weiterführen. Der Kern der Aussage ändert sich nicht: Ausdrücke wie Warmduscher, Schattenparkierer oder Turnbeutelvergesser sind Synonyme für das Wort Weichei. Ich zähle mich auch dazu. Aber ich will nicht vorgreifen..

Seit einiger Zeit muss ich vermehrt vernehmen, dass die Unfallquote und somit das Verletzungsrisiko beim Mountain Biking grösser ausfällt als bisher vermutet. Das ist jetzt eine rein subjektive Aussage, die in unserem Bekanntenkreis aber leider zutrifft. Kleine Fehler aufgrund einer Übermüdung, unzureichender Schutzausrüstung oder etwas Blödsinn sind meist die Ursachen einer langwierigen und nicht nur physisch schmerzvollen Verletzung. Während der Genesung hat man ja Zeit, um sich ein paar Gedanken zu „Ursache und Wirkung“ beziehungsweise „Soll und Haben“ zu machen.

Should I stay or should I go? – Jeder Biker steht früher oder später an diesem Punkt

War das Weglassen eines Ellbogenschoners die 3-monatige Physiotherapie und den 6-monatigen Ausfall vom Bikesport wert? War der Wheelie, den Du Deinen Freunden mit stolz geschwellter Brust und in angetrunkenem Zustand zeigen wolltest, den Beinbruch und das frühzeitige Ende der Bikesaison wert?

Leider lassen sich nicht alle Verletzungen auf Fehlentscheidungen oder kleine Dummheiten zurückführen. Manchmal sind sie das Resultat einer bewusst getroffenen und gefühlsmässig korrekten Entscheidung.

Fahre ich nun endlich zum ersten Mal über den grossen Drop, den ich mir eigentlich zutraue und den ich auch einschätzen kann, oder nehme wie üblich den Weg des geringsten Wiederstandes und gackere über einen weiteren Chickenway?

Wie oft beantworte ich diese Frage mit „Chickenway natürlich“? Bis ich meine Grenzen erweitern und meinen inneren Schweinehund überwinden will, lautet die Antwort. Was braucht es dazu? Motivation, Mut und eine korrekte Einschätzung der Situation und Deiner eigenen Fähigkeiten. Ein kalkuliertes Risiko.

Stillstand ist der Tod. Ein sehr schönes und in vielen Lebenslagen anwendbares Sprichwort. Wenn ich mich immer nur auf das besinne, was ich kann und was ich kenne, werde ich früher oder später abstumpfen. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und sein Körper macht es ihm vor. Der Kick muss kontinuierlich wachsen, ansonsten stellt sich Langeweile ein und der gewünschte Effekt bleibt aussen vor: Flow (Was das genau ist, kannst Du hier nachlesen).

Flow entsteht, wenn Anforderungen und Fähigkeiten hoch und im Gleichgewicht sind. Mit anderen Worten: Was „keine Kunst“ ist, erzeugt auch keinen Flow. Unter- bzw. Überforderung erzeugen Langeweile bzw. Angst. Wenn Fähigkeiten und Anforderungen gering sind, kommt es zu keiner besonderen Erfahrung oder Emotion.

Nun gibt es jedoch unterschiedliche Herangehensweisen, um sich einer Herausforderung zu stellen.

Erstens: Ich werfe mich mit aller Kraft und ohne einen weiteren Gedanken in jede noch so heikle und anspruchsvolle Situation. Es gibt viele Leute, die Ihre Grenzen auf diese Art erweitern und kein Problem damit haben. Denen sagt man dann „Der hat Eier“. Bei mir löst das Angst aus (siehe oben) und somit ist mein Scheitern praktisch vorprogrammiert. Manchmal ist das wie ein Schalter im Gehirn, den man nur mit viel Überwindung umlegen kann.

Zweitens: Man lässt sich jahrelang Zeit, um sich zu entwickeln. Bloss nichts überstürzen. Kommt Zeit, kommt Rat. Nach dieser Devise war ich selbst schon ein ganzes Jahrzehnt auf dem Fahrrad unterwegs. Es hat mir bestimmt gut getan und hat mir zu einem soliden Basiskönnen verholfen. Die Entwicklung fand jedoch nur schleppend statt und fiel nicht sonderlich markant aus.

Drittens: Kalkuliertes Risiko. Ich kenne meine Grenze, mein Können und meine Ängste. Ich überwinde sie systematisch und versuche mit möglichst grosser Sicherheit auf ein möglichst hohes Niveau zu kommen. Dies benötigt zwar Zeit, Motivation und Geduld, wird jedoch auch mit der grössten Ausbeute belohnt.

Die Qual der Wahl – Soll ich den Drop nehmen? Oder wieder den Chickenway?

Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich bereits alle diese Phasen durchlaufen und mich nicht bloss zufällig in der letzten Kategorie gefunden und niedergelassen habe. In der ersten Kategorie, den Draufgängern, war mir der Preis einfach zu hoch. Eine ganze Saison nicht Biken,
weil ich mich übernommen habe und nun durch irgendein „bobo“ nicht mehr auf mein geliebtes Velo darf? Ohne mich! In der zweiten Kategorie, den Vorsichtigen, war das Biken wirklich geil. Keine nennenswerten  Verletzungen, gute Grundlagenkenntnisse und viel Spass am Fahren. Ein Gefühl von Leere blieb jedoch zurück, wie ein schaler Beigeschmack: Es fehlt etwas. Rundherum sah man den Bikesport in alle erdenklichen Richtungen entwickeln, nur man selbst blieb stehen und schaute etwas neidisch zu. Weshalb kann ich das nicht? Wie können die das..? Was muss man tun, um…? Bin ich unfähig..? Fragen über Fragen, die nur folgendermassen beantwortet werden können: Du bist stehen geblieben. Diese Erkenntnis erschreckte mich ein wenig, denn ich wollte nicht 10 Jahre auf dem Bike verbringen, ohne etwas zu erreichen. Ich wollte kein Weichei sein. Ich wollte mehr Spass, mehr Speed, mehr Tricks und einfach mehr Flow. Dies war der Zeitpunkt, als ich mich in die dritte Kategorie begab..

Seither hat sich für mich der Spassfaktor auf dem Bike vervielfacht. Ich lerne ständig neue Sachen, fühle mich immer wohler auf dem Rad und erweitere meine eigenen Grenzen regelmässig und bewusst. Trotzdem hatte ich seit Jahren keine Verletzungen mehr, die mich mehr als ein paar Tage von den Bergen und den Trails fernhielten. Klopf auf Holz.

Mit dem Können, steigt auch der Spass am Biken

Du fragst Dich nun, was Dir das nützen soll?

Denke einmal über folgende Fragen nach: Wo stehe ich? Wo will ich hin?
Nun versuch Dein Ziel möglichst knapp, aber klar zu definieren.

Jetzt gilt es lediglich noch folgendes herauszufinden: Wie kannst Du dieses Ziel in möglichst kurzer Zeit, mit dem geringsten Aufwand und dem geringsten Risiko erreichen? Dadurch hast Du Dich nicht nur mit einem wichtigen Aspekt Deines Sportlerdaseins, sondern auch tiefgehend mit Deinen Wünschen und Vorlieben auseinandergesetzt.

..und die Moral von der Geschicht?

Du willst einen hohen Drop springen? Dann taste Dich langsam aber sicher heran.. Steigere Dich von mal zu mal. So hast Du immer ein sicheres Gefühl und verbesserst Dich trotzdem und landest nicht beim ersten Versuch im Spital.. Du willst möglichst stylisch und flüssig fahren? Lerne die verschiedenen Aspekte wie Springen, Surfen und Kurventechnik. Aber vergiss nicht: Übertreib es nicht, es bringt Dir nichts im Krankenhaus als der grösste Stecher bekannt zu sein. Nimm trotzdem jede Möglichkeit wahr, die Dich Deinem Ziel näher bringt.. Bekämpfe den Angsthasen in Dir! Sonst bleibst Du womöglich noch stehen und Du weisst ja, wohin das führt..

Carpe diem!

Weitere Praxistipps zur Überwindung Deiner Ängste gibt es im folgenden Bericht: MTB Fahrtechnik – Mut und Angst

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